DT64

dt64, jugendsender

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DT64 – Spiegel und Sprachrohr der Jugend

„Power from the East Side“ – ein Motto, ein Lebensgefühl, ein Stück Geschichte in der DDR. DT64 war mehr als nur ein Radiosender. Er war das akustische Zuhause der Jugend in der DDR. Eine Plattform für Beat und Bass, für Protest und Pop, für Aufbruch und Haltung. Was 1964 als Sonderstudio zum „Deutschlandtreffen der Jugend“ in Ost-Berlin begann, entwickelte sich über fast drei Jahrzehnte hinweg zum Herzstück der ostdeutschen Jugendkultur. 1993 endete es nicht sang- und klanglos, sondern mit einer Welle an Protest, Solidarität und musikalischer Würde.

Die Ursprünge: Von der „Jungen Welle“ zum Sonderstudio DT64

Die Vorgeschichte reicht bis ins Jahr 1959 zurück. Damals formierte Radio DDR die „Redaktion Junge Welle“, bestehend aus dem Jugendfunk, dem Kinderradio DDR und dem Vorschulprogramm „Aus dem Butzemannhaus“. Am 1. Dezember 1961 startete die wöchentliche Sendung „Abend der Jugend“ – ein Magazinformat mit jugendnahen Themen, Live-Schaltungen aus Klubhäusern und für DDR-Verhältnisse durchaus progressiver Musik. Der Musikredakteur Klaus Schneider prägte früh den Anspruch, junge Menschen nicht zu belehren, sondern zu begeistern.

Als 1964 das große Deutschlandtreffen der Jugend (DeutschlandTreffen 1964) bevorstand, entschloss man sich zur Einrichtung eines Sonderstudios DT64 – benannt nach dem Treffen selbst. 99 Stunden Nonstop-Radio mit internationalen Pop-Sounds, Interviews, Reportagen und Live-Atmosphäre wurden zur Initialzündung. Die Reaktionen waren überwältigend – sogar der FDJ-Zentralrat drängte auf eine tägliche Fortsetzung. Während Radio DDR das Ansinnen ablehnte, griff der Berliner Rundfunk beherzt zu. Am 29. Juni 1964 ging DT64 offiziell als Jugendstudio auf Sendung – zunächst als Teil des Tagesprogramms, bald darauf als eigenständige Kraft.

Wachsen in Widersprüchen: Beatmusik und SED-Kritik

DT64 war von Anfang an ein Spagat: Einerseits gab es „jugendgemäße Musik“ und lockere Moderationen, andererseits eine ideologische Rahmung im Sinne der sozialistischen Erziehung. Doch mit dem internationalen Aufkommen der Beatmusik – Beatles, Stones & Co. – wuchs auch der kulturelle Druck. Auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Jahr 1965 kritisierte Erich Honecker scharf die „einseitige Propagierung der Beatmusik“ durch DT64 – eine frühe Mahnung, die Grenzen der Freiheit immer wieder auszutarieren.

Und doch entwickelte sich DT64 zum wichtigsten Medium der Jugend mit wachsendem Einfluss. Ab 1976 tourten die „Jugendkonzerte“, ab 1981 gab es Abendprogramme in Kooperation mit der „Stimme der DDR“.

DT64 wurde zum Sender – und Kulturphänomen

Am 7. März 1986 wurde aus dem Programm ein vollwertiger Sender mit eigener UKW-Kette. Und DT64 wuchs weiter. Beliebte Sendungen wie „Morgenrock“, „Hit-Globus“ (mit Lutz Bertram), „Duett – Musik für den Rekorder“ oder Spezialformate wie „Electronics“ (moderiert von Olaf Zimmermann), „Tendenz Hard bis Heavy“ oder das legendäre „Parocktikum“ mit Lutz Schramm brachten Rock, Punk, Underground, Synthie und Soul aus aller Welt – und auch aus der DDR – direkt in die Jugendzimmer. Man konnte ganze Platten mitschneiden – ein bewusst gesetzter Freiraum des Senders für die Hörerschaft.

Moderatoren & Stimmen

Legendäre Stimmen wie Marion Brasch, Lutz Schramm, Olaf Zimmermann, Lutz Bertram, Christiane Krüger und Anja Caspary prägten das Profil. Nach der Wende wechselten viele zum Ableger Rockradio B und von dort zum später gegründeten Jugendradio Fritz, andere fanden ihren Platz beim MDR Sputnik, dem Nachfolgesender von DT64.

DT64 in der Wendezeit: Radio als Mittel des Widerstands

Während der friedlichen Revolution im Jahr 1989 wurde DT64 zur offenen Plattform: Es gab Liveberichte von den Montagsdemonstrationen, Solidaritätsaufrufe, Lesungen aus Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit” und Interviews mit Oppositionellen. Am 8. November 1989 sprach die Redaktion ihrer eigenen Leitung das Misstrauen aus. Kurze Zeit später funkte der Sender vom West-Berliner Kurfürstendamm – ein symbolischer Schritt der Öffnung.

Ab dem 1. April 1990 sendete DT64 mit dem Slogan „Power from the East Side“ rund um die Uhr und organisierte mit dem SDR3 die legendäre Hitparade „Top 2000 D“ (mit „Nothing Compares 2 U“ auf Platz 1). DT64 wurde zur transdeutschen Kult-Plattform. Die DDR war verschwunden – DT64 aber lebte weiter.

Abwicklung und Widerstand – Das große Abschalten

Trotz seiner Popularität wurde das Jugendradio bald zum Spielball der Medienpolitik im wiedervereinigten Deutschland. Im September 1990 wurden außerhalb Berlins sämtliche Frequenzen an den RIAS abgegeben, doch Hörerproteste zwangen die Verantwortlichen zur Rücknahme. Doch der Druck blieb.

Ab 1991 wurden schrittweise UKW-Frequenzen abgeschaltet. In der Folge gründeten sich überall „Freunde des Jugendradios DT64”, es gab Protestmärsche und Rockmarathons (u. a. mit Udo Lindenberg und den Abstürzenden Brieftauben) sowie den legendären „Sonderzug nach Pankow”. Das Radio wurde zum politischen Symbol. Durch die Techno-Sendung „Dancehall“ von Marusha wurde DT64 sogar zum Wegbereiter der deutschen Rave-Kultur. Die erste Mayday (1991) war ursprünglich eine Aktion zur Rettung des Senders, ins Leben gerufen von WestBam und Fabian Lenz.

Doch es half nichts. Am 1. Mai 1993 endete DT64 und wurde in MDR Sputnik umbenannt. Der neue Name stammt von Kurt Biedenkopf, der Sender war nun Teil des MDR. Zwar blieb etwas vom Geist, aber nicht von der Unabhängigkeit.

Vermächtnis und Nachwirkung

Die Rechte an Logo und Name von DT64 wurden noch 1999 durch den MDR geschützt, später verkauft und schließlich im Jahr 2020 gelöscht. Was bleibt, ist der Mythos. DT64 war ein Ort des Austauschs und des kulturellen Aufbruchs, ein Lagerfeuer der Musikliebenden im Osten. Später wurde der Sender zu einer Bühne für Rebellion, Wandel und Wiedervereinigung auf musikalischer Frequenz.

DT64 war mehr als ein Sender. Es war ein Lebensgefühl. Ein Soundtrack des Erwachsenwerdens in einem untergehenden Staat. Und ein Symbol dafür, wie viel Radio bedeuten kann, wenn es den Menschen zuhört.

Bekannte Moderatoren und Sprecher von DT64

  • Andreas Ulrich (Journalist und Moderator)
  • Christine Dähn
  • Frank Aischmann (Moderator)
  • Günter Schneidewind (Radiomoderator)
  • Jens Riewa (Moderator und später Nachrichtensprecher (Tagesschau))
  • Karsten Blumenthal (Moderator, Schauspieler und Regisseur)
  • Knut Elstermann (Filmkritiker und Moderator)
  • Luise Mirsch (Moderatorin, Musikredakteurin, Musikproduzentin)
  • Lutz Bertram (Radiomoderator)
  • Lutz Schramm (Rundfunkkünstler und Journalist)
  • Marion Brasch (Hörfunkjournalistin und Schriftstellerin)
  • Silke Hasselmann (Moderatorin)
  • Stefan Lasch (Redakteur, Moderator und stellvertretender Chefredakteur Musik)
  • Susanne Daubner (später Fernsehmoderatorin und Nachrichtensprecherin (Tagesschau))
  • Tatjana Jury (später Fernsehmoderatorin)
  • Wilfried Bergholz, (Hörfunkredakteur (1975 bis 1978))