Ragtime

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Ragtime – das „Geräusch der Modernisierung”

Ragtime ist ein in den USA entstandener Musikstil, der als Vorläufer des Jazz gilt und zwischen 1899 und 1914 seine Blütezeit hatte. Er wird auch als „Amerikas klassische Musik“ bezeichnet und wird heute vorwiegend als Klavierstil wahrgenommen und praktiziert. Ursprünglich wurde er aber auch auf anderen Instrumenten, besonders auf dem Banjo, sowie in klein- und mittelformatigen Ensembleformationen gespielt.

Historische Wurzeln und geografischer Ursprung

Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert formierte sich Ragtime in den Südstaaten der USA, besonders in Missouri, das sich bald als Zentrum dieser Entwicklung etablieren sollte. Diese neue Musik war keine spontane Erfindung, sondern das Ergebnis einer längeren kulturellen Entwicklung. Bereits ab etwa 1860 lassen sich Vorläufer der Ragtime-Rhythmik erkennen, insbesondere in der afroamerikanischen Volksmusik. Deren synkopische Banjotechniken wurden bald auf das Klavier übertragen. Der populäre Cakewalk, ein afroamerikanischer Tanz, trug zur Verbreitung dieser Spielart bei, zu der eine rhythmisch gebrochene Begleitmusik gespielt wurde. Daraus erwuchs in den 1890er-Jahren eine regelrechte Tanzmode.

Was zunächst als naive Übertragung banjoartiger Rhythmen begann, gewann an musikalischer Raffinesse, als klassisch geschulte afroamerikanische Komponisten das Material aufgriffen. So entstand der „voll entwickelte Ragtime” ab etwa 1885, als Pianisten wie Ben Harney Stücke wie „You’ve Been a Good Old Wagon But You’ve Done Broke Down” auf ein neues kompositorisches Niveau hoben.

Als 1897 mit dem „Louisiana Rag” von Theodore Northrup die ersten Ragtime-Kompositionen gedruckt wurden, war das Fundament gelegt. Besonders Tom Turpins Harlem Rag, ebenfalls 1897 veröffentlicht, gilt heute als Meilenstein, obwohl das Stück selbst bereits 1892 entstanden war. Parallel dazu erschienen erste Anleitungen und Arrangements wie Ben Harney’s Ragtime Instructor, der populäre Melodien im neuen Stil aufbereitete. Auch Jesse Pickett, ein reisender Pianist, wurde von Zeitzeugen als Pionier des Genres erwähnt.

Woher kommt der Begriff „Ragtime”?

Der Begriff „Ragtime“ leitet sich vom englischen Wort „ragged“ ab, was so viel wie „zerrissen“, „zerfasert“ oder „ausgefranst“ bedeutet. Damit ist der typische, „zerrissene“ Rhythmus dieser Musik gemeint. Die „zerrupfte“ Taktstruktur, die oft in der rechten Hand des Klaviers zu hören ist, während die linke Hand einen straffen, marschartigen Bass liefert, war zur Zeit der Entstehung etwas radikal Neues in der populären Musik. Diese Technik geht direkt auf die afrikanischen Polyrhythmen zurück, die über die afroamerikanische Folk- und Tanzmusik in den Ragtime eingeflossen sind. So wurde aus „ragged time” ein eigener Stil – und schließlich ein Name, der bis heute eine ganze musikalische Ära bezeichnet.

Soziokulturelle Einflüsse und gesellschaftlicher Kontext

Ragtime war von Beginn an eine Musik des Umbruchs, geboren in den afroamerikanischen Gemeinden nach dem Ende der Sklaverei – voller Energie, aber auch reflektierend. In Salons, Barrelhouses, Vaudeville-Theatern oder Bordellen war Ragtime zunächst Alltagsmusik, die auf verstimmten Klavieren gespielt und oft improvisiert wurde. Doch spätestens mit dem Notendruck ab 1897 wurde aus dieser Salonmusik ein landesweites Phänomen.i.

Ein kultureller Höhepunkt dieser Bewegung war die Weltausstellung 1904 in St. Louis, bei der Tom Turpin einen großen Ragtime-Wettbewerb veranstaltete. Scott Joplin widmete der Veranstaltung sein Stück „The Cascades”, während Turpin selbst mit „St. Louis Rag” vertreten war. Das Genre erreichte in diesem Moment den Gipfel seiner gesellschaftlichen Präsenz. Besonders die Stadt Sedalia – Joplins Wohnort und Sitz seines Verlegers John Stark – entwickelte sich zum kreativen Epizentrum des Ragtime. Auch Atlantic City trug mit Komponisten wie Jens Bodewalt Lampe (Creole Belles, 1900) zum kulturellen Aufschwung bei.

Instrumentierung, Spieltechniken und Produktionstraditionen

Der klassische Ragtime ist in erster Linie Klaviermusik. Die linke Hand sorgt mit marschartigen Bass-Oktaven und Akkorden für eine stabile Basis, während die rechte Hand synkopierte Melodien darüberlegt – so entsteht das ikonische „Ragtime“-Gefühl. Viele dieser Stücke wurden zunächst nach Gehör gespielt, später via Piano Rolls oder als gedruckte Noten verbreitet.

Zugleich entwickelte sich eine Vielzahl an Ensemble-Formen. James Reese Europe, einer der bedeutendsten afroamerikanischen Komponisten und Dirigenten seiner Zeit, stellte ein Ragtime-Orchester mit über 100 Musikern zusammen – eine klangliche Wucht, die selbst in der Carnegie Hall nicht ungehört blieb.

Klangbild und Soundcharakteristik

Der klangliche Kern des Ragtime liegt im Spannungsverhältnis zwischen konstanter Metrik und rhythmischer Verschiebung. Während der Bass marschiert, tanzt die Melodie aus der Reihe. Diese polyrhythmische Struktur ist ein Schlüsselmerkmal afroamerikanischer Musiktradition und wurde in eine strukturierte, oft durchkomponierte Form überführt. 

Zugleich waren Geschwindigkeit und Artikulation entscheidend. Scott Joplin betonte, dass Ragtime nicht zu schnell gespielt werden dürfe, um seine charakteristische Eleganz und klangliche Raffinesse zu bewahren. Ein Maple Leaf Rag im Presto-Tempo verliert genau das, was ihn auszeichnet: die Feinheit der rhythmischen Reibung.

Rezeption, Wandel und Relevanz über die Jahrzehnte

Von 1906 bis zum Ersten Weltkrieg war Ragtime die populäre Musikform der USA. Er schwappte sogar nach Europa über und beeinflusste dort die Tanzmusik und die Operettenstilistik. Ragtime-Songs, die häufig Mischformen aus Populärmusik und synkopierter Begleitung sind, dominierten die amerikanische Musiklandschaft. Reine Saxophon-Ensembles experimentierten mit neuen Klangfarben und Ragtime-Bands wie die von James Reese Europe gewannen überregionale Bekanntheit.

Mit dem Tod von Scott Joplin im Jahr 1917 endete die erste Blütezeit des Ragtime. Der Übergang zum Jazz war fließend. Im Harlem Stride der 1920er- und 30er-Jahre lebt der Ragtime weiter – nun verwegener, virtuoser und urbaner. Künstler wie Eubie Blake blieben auch nach dem Boom stilprägend, etwa mit der Broadway-Show Shuffle Along (1921), deren Musik zwischen Ragtime und frühem Jazz oszillierte.

Internationale Verbindungen und stilistische Nachwirkungen

Ragtime war nicht nur ein nordamerikanisches Phänomen. Claude Debussy verarbeitete beispielsweise die rhythmischen Elemente in seinem Golliwogg’s Cake-Walk (1908). Die Mischung aus europäischer Formstrenge und afroamerikanischen Rhythmen war neu und wurde zur Blaupause für vieles, was später im Jazz, Swing, Boogie-Woogie und sogar im Rock ’n’ Roll auftauchte.

Auch die europäische Tanzmusik des frühen 20. Jahrhunderts zeigte Ragtime-Einflüsse, etwa in den rhythmisch verspielten Salonstücken oder im frühen deutschen Schlager. Diese Rückkopplung zeugt vom grenzüberschreitenden Potenzial des Genres.

Reflektion – Der Nachhall einer klanglichen Revolution

Ragtime war mehr als nur ein Musikstil – es war ein akustisches Dokument gesellschaftlicher Transformation. Er verband die rhythmische Tiefe afroamerikanischer Musik mit europäischer Formkultur und wurde so zum ersten wirklich amerikanischen Genre.

Sein Klang ist nicht bloß Nostalgie, sondern Zeugnis einer Bewegung: zwischen Improvisation und Struktur, zwischen Tanzboden und Konzerthaus, zwischen Alltag und künstlerischer Vision. Auch wenn Jazz, Bebop oder Hip-Hop längst andere Kapitel aufgeschlagen haben, bleibt Ragtime ein stilistischer Grundstein, der leise vibrierend im Hintergrund der Musikgeschichte nachwirkt, aber nie wirklich verklungen ist.

Bekannte Künstler des Ragtime

  • Allen Jaffe
  • Ben Harney
  • Edythe Baker
  • Eubie Blake
  • George Gershwin
  • James Reese Europe
  • James Scott
  • Jens Bodewalt Lampe
  • John Arpin
  • Joseph Lamb
  • Louis Chauvin
  • Marcus Roberts
  • Morten Gunnar Larsen
  • Pauline Alpert
  • Reginald R. Robinson
  • Scott Joplin – der „King of Ragtime“
  • Tom Turpin
  • William Bolcom

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